Gülle vs. Kölle

„Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)“, sagt der Online-Duden, wenn ich den Begriff „Heimat“ in das Suchfeld eingebe.

Ich bin keine Rückkehrerin und weiß auch nicht, ob ich jemals eine sein werde. Aber gerade das vergangene Jahr hat mich doch das ein oder andere Mal darüber nachdenken lassen: „Was wäre wenn…?“ Und ja, wenn ich darüber nachdenke, der Stadt den Rücken zu kehren, dann denke ich immer daran, zurück in die Heimat zu gehen. Nicht nach Mecklenburg-Vorpommern, wo vielleicht noch weniger Menschen sind, wo noch mehr Ruhe herrscht, nicht nach Schleswig-Holstein, wo das Meer nicht weit ist. Ich denke an die unzähligen Hügel des Sauerlandes und die niedlichen Fachwerkhäuschen – weil genau das meine Heimat ist, der Ort, an dem ich den größten Teil meines bisherigen Lebens verbracht habe.

Mein Zuhause ist gerade ein anderes. Seit beinahe zwei Jahren lebe ich nun mitten in Köln. Nicht weit weg vom Sauerland, aber doch in einer ganz anderen Welt. Statt unendlichen Wäldern und Feldern, stehen hier Häuser dicht an dicht, ab und an unterbrochen von einem Park, in dem man in normalen Zeiten vor lauter Menschen kaum noch Rasen sieht. 133 Einwohner pro Quadratkilometer im Hochsauerland gegen 2.686 Einwohner pro Quadratkilometer in Köln. Den Unterschied merkt man – vor allem dann, wenn man sich aus dem Weg gehen soll.

Während der Pandemie mitten in der Stadt zu wohnen, war vielleicht eine größere Herausforderung als auf dem Land. Zumindest war das das Gefühl, das in mir aufkam, wenn ich die Insta-Storys meiner Sauerländer Freunde anschaute. Während sie lange, einsame Wanderungen in den Wäldern des Sauerlandes oder Urlaub im eigenen Garten machten, fuhr ich mit dem Fahrrad die immer gleiche Strecke am Rhein hoch und runter oder erkundete jeden einzelnen Park und Weiher, bis ich sie alle kannte. Radelte im Slalom um all die Städter drumherum, die ebenfalls ein wenig Bewegung brauchten. Gestresst darum bemüht, genügend Abstand zu halten.

In diesen Momenten vergesse ich manchmal, wieso ich hierhergekommen bin. Ja, wieso eigentlich nochmal? Kölle… Hier ist alles anders als im Sauerland – und genau das wollte ich wohl. Karnevalskonfettibunt statt fichtengrün und schiefergrau, die Menschen so ungewohnt offen – sogar für eine zurückhaltende Sauerländerin wie mich haben sie einen Platz in ihrem Herzen. Nicht einmal beim Bahnfahren wird es hier langweilig – jeder zweite, der zusteigt, ist eine neue Kuriosität. Im Park singt immer irgendjemand „Wonderwall“ und klimpert dazu auf der Gitarre, zwischen den Bäumen balanciert jemand geschickt über eine Slackline und jongliert dabei und irgendwo weiter hinten hat ein Skater gerade einen brillanten Kickflip geschafft. Und die Partys … wie schön ist es an einem Sonntagmorgen nach einer durchtanzten Nacht durch die Stadt nach Hause zu radeln, während die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Häusern hervorkommen. Schnell noch bei einem der fünf Bäcker im 250-Meter-Umkreis zu meiner Wohnung Brötchen für das späte Frühstück holen, bevor es dann wieder auf Achse geht: an den Rhein, ein paar Kioskbier mit Freunden trinken und mental auf die bevorstehende Arbeitswoche vorbereiten.

Aber jetzt? Was hat Corona von meinem fröhlichen Köln übriggelassen? Die sonst so belebten Straßen waren auf einmal sehr still, als der erste Lockdown begann. Keine langen Schlangen mehr vor den Clubs, keine Livemusik und fröhliche Gespräche an vollen Tischen vor den Restaurants, geschlossene Museen und Kinos und auch als dann das Semester anfing, fehlten die Horden an besoffenen Erstis, die von Kneipe zu Kneipe tingelten. Das Leben spielte sich im vergangenen Jahr hauptsächlich in den eigenen vier Wänden ab. Überall. Aber hier in der Stadt, wo alle so nah beieinander leben und sich doch so fern sind, kommt schnell die Einsamkeit. Plötzlich nervten die Geräusche von der anderen Seite der Wand mehr als sonst und mir wurde bewusst, wie nah die Nachbarn sind, deren Namen ich nicht kenne. Die Straßen wirkten enger und grauer und der Geruch von abgasschwangerer Stadtluft biss auf einmal mehr in der Nase als ein frisch gejauchtes Feld im Sauerland. Ja, das Sauerland… wie wäre es gewesen, wenn ich die langen Monate der Pandemie dort verbracht hätte?

Hätte ich mich weniger „gefangen“ gefühlt? Wäre ich jeden Tag im menschenleeren Wald spazieren oder gar joggen gegangen? Hätte ich endlich mal die Orte besucht, für die jedes Jahr Millionen von Urlaubern ins Sauerland kommen? Hätte ich gemerkt, dass ich dort aufgewachsen bin, wo „andere Leute Urlaub machen“, wie es immer so schön heißt, und dass es doch ziemlich dämlich ist, wegzugehen, wenn es dort doch so schön ist? Wäre die Stille gar nicht so laut geworden, weil sie ohnehin immer da ist im Sauerland? Ich weiß es nicht, aber es hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, was mir in meiner Heimat gefehlt hat und zwar so sehr, dass ich den Entschluss gefasst habe, von dort wegzugehen.

Ich lese noch einmal den Duden-Eintrag über „Heimat“ und merke, dass diese Verbundenheit zum Sauerland doch stärker da ist, als ich dachte. Wenn ich in Gedanken durch die Orte gehe, in denen ich die meiste Zeit verbracht habe, dann stellt sich ein ganz bestimmtes Gefühl ein. Ich kenne dort jeden Baum, jedes Haus und jeden Menschen. Ich grüße, unterhalte mich kurz – über das Wetter, über Politisches oder den nächsten anstehenden Geburtstag. In der Stadt ist alles anonymer, jeden Tag treffe ich auf so viele unbekannte Gesichter, entdecke an jeder Ecke ständig irgendetwas Neues. Das ist aufregend, anders – aber vielleicht fehlt dieses Gefühl, ganz selbstverständlich an diesem Ort zu sein, dorthin zu gehören, das Heimatgefühl eben.

In den kommenden Monaten werde ich mir auf diesem Blog Gedanken darüber machen, was es ist, das (junge) Menschen vom Land in die Stadt treibt – Arbeit, Kultur, die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten? – und welche Anreize geschaffen werden könnten, um die Vorteile, die die Stadt vermeintlich bietet, auch aufs Land zu holen und mit den Vorteilen des Lebens auf dem Land zu kombinieren, damit diese Leute einen Grund haben, in ihre Heimat zurückzukehren.

Autorin: Sonja Nürnberger