Nicht nur das Leben auf dem Land ist anders als in der Stadt. Auch das Arbeiten ist es. Das weiß auch Julia. Und dabei geht es nicht, um einen Job in der Landwirtschaft oder in einem Industrieunternehmen, sondern um einen, der in der Stadt genauso gefragt ist, wie auf dem Land. Und trotzdem ist es nicht dasselbe.
Julia wuchs im Sauerland auf und ging nach dem Abitur fort zum Studieren. Für sie war das ein ganz selbstverständlicher Schritt. Es ging ihr nicht in erster Linie darum, ihre Heimat zu verlassen. Sie hatte bloß keine Wahl, wenn sie das studieren wollte, wovon sie schon immer geträumt hatte. Denn Zahnmedizin lässt sich eben nicht in Arnsberg studieren. Dass es so weit weg ging, war eigentlich gar nicht geplant gewesen. Münster oder Aachen sollte es werden, auf jeden Fall Nordrhein-Westfalen. Aber das kann man sich in manchen Studiengängen eben nicht aussuchen und so ging es gen Süden, nach Regensburg. Das kannte Julia eigentlich nur vom Vorbeifahren auf dem Weg in den Urlaub. Jetzt stand sie mit Sack und Pack vor dem Studentenwohnheim und schaute mit mulmigen Gefühl ihren Eltern hinterher, die zurück ins Sauerland fuhren. Das war aber mit den Ersti-Tagen schnell vergessen. Neue Bekanntschaften machten das Studium in Bayern schön und trotzdem freute sich Julia jedes Mal darauf, in den Semesterferien oder an langen Wochenenden das Sauerland und ihre Familie und Freunde dort zu besuchen.
Die Kontakte ins Sauerland wurden jedoch immer weniger. Denn wie Julia selbst verließen immer mehr die Heimat und verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Und so zog es Julia nach dem Studium, obwohl ihr eine Assistenzstelle mit Aussicht auf eine spätere Übernahme der Praxis angeboten wurde, wieder in die Stadt. Diesmal sollte es aber ein paar Nummern größer werden: Hamburg, München oder Berlin standen auf der Liste. Doch das Gefühl wieder so weit von der Heimat weg zu sein und nicht „mal eben“ ins Sauerland fahren zu können, hielten sie davon ab. Da kam es gerade gelegen, dass Julia intensivere Bekanntschaft mit Köln machte, weil eine Freundin dort gerade ihr Referendariat machte. Kurz entschlossen ging es in die Domstadt – für ganze zehn Jahre.
Julia lebte nun mitten im quirligen Köln und arbeitete für einige Monate in einer Praxis am Rudolphplatz. Aber bei der Arbeit fehlte ihr etwas ganz Grundsätzliches: zwischen Arzt und Patient konnte keine Vertrauensbasis geschaffen werden. Das lag daran, dass die Patienten heute in diese und morgen in die Praxis ein paar Häuser weitergehen. Deswegen entschied Julia sich, zwar in Köln wohnen zu bleiben, aber für die Arbeit jeden Tag etwas raus zu fahren. Im ländlicheren Raum machte es ihr viel mehr Spaß zu arbeiten. Man sagt, dass es etwa ein Jahr braucht, bis sich eine neue Ärztin etabliert hat. Am Anfang war Julia auch dort nur die neue junge Zahnärztin, aber nach einiger Zeit, kannte Julia das ganze Dorf: Die Oma und den Papa und wusste, wann das Kind eingeschult wurde. Auf dem Land kommen die Patienten immer wieder in dieselbe Praxis. Eine kleine Landzahnarztpraxis, das war Julias Traumvorstellung von ihrem Beruf.
Als dann das erste Mal der Gedanke aufkam, sich selbstständig zu machen, war es nie eine Option, das im Haifischbecken Köln zu tun. Gleichzeitig war es aber auch keine Option in die Vororte von Köln zu ziehen. Leben wollte sie nur in der Großstadt – oder in der Heimat. Und als dann die Pandemie kam, wurde Julia immer bewusster, wie sehr sie das Sauerland aus der Ferne doch zu schätzen gelernt hatte. Die Stadt hatte ihr zu dieser Zeit einfach nichts mehr zu geben. Jedes Wochenende ging Julia mit einer Freundin in der Natur wandern und wenn sie ihre Eltern besuchte und fragte, wie es ihnen während der Pandemie so erging, dann klang das alles so viel entspannter als in der Großstadt. Für Julia stand eine Entscheidung an. Sie war an einem Punkt angelangt, an dem es für sie so nicht weiterging. Sie hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Der Gedanke der Selbstständigkeit wurde immer konkreter. Wann war der richtige Zeitpunkt dafür? Gab es den richtigen Zeitpunkt überhaupt? Für Julia war er letztes Jahr. Und sobald der Entschluss gefasst war, war auch klar, dass es nur einen richtigen Ort dafür gab und das war das Sauerland.
Julia schaute sich ein paar alte Praxen an, die alle nicht zu dem passten, was ihr vorschwebte und so entschied sie sich schließlich für eine komplette Neugründung. Das war natürlich ein Risiko, aber eines, das Julia gerne in Kauf nahm. Für Julia öffnete sich durch diesen Schritt eine Tür und dahinter sah sie ihren Weg ganz genau vor sich. Sie ist selbst ganz verwundert, wie viele nette und hilfsbereite Menschen sie auf diesem Weg bis hierher schon getroffen hat. Sie glaubt, dass es in Köln deutlich schwieriger gewesen wäre. Denn dort wäre sie völlig auf sich alleine gestellt gewesen. Im Sauerland hingegen gab es Unterstützung von allen Seiten. Und Julia hat es bis heute nicht bereut. Und das, obwohl einige Freunde mit leichtem Unbehagen reagierten. Für Julia gehörte Mut dazu. Für sie bedeutete es, etwas loszulassen, das sie viele Jahre lang sehr geliebt hat. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust – aber am Ende überzeugte dann doch die Heimat.