Hätte man Andreas vor einigen Jahren gefragt, wo Meschede liegt, hätte er es wohl nicht beantworten können. Ja, das Sauerland war ihm schon irgendwie ein Begriff. Dort war er mal in Winterberg mit einem Freund zum Skifahren. Dass er hier einmal leben würde, daran hat er zu dem Zeitpunkt aber wahrscheinlich im Traum nicht gedacht.
Aufgewachsen ist er jedoch ähnlich ländlich in der Nähe von Koblenz. Jeder kannte jeden, wenn man mal die Tür offenstehen ließ, dann zog der Nachbar sie für einen zu. Die Kindheit typisch 90er Jahre: Zum Spielen verabreden war nicht nötig, irgendwo fand man immer irgendein anderes Kind in Laufnähe. Dort fühlt er sich wohl und hatte eigentlich auch nicht vor, dort wegzugehen. Auch als Erwachsener schien es ein guter Ort zum Leben zu sein. Koblenz war nicht weit. Bei einer Versicherung betreute er dort das duale Studium. Doch dann lernte Andreas seine jetzige Frau kennen. Die kam aus einer 8-Millionen-Einwohner-Stadt in China und studierte nach einem Zwischenstopp in Berlin nun in Köln. Andreas war nun regelmäßig dort zu Besuch. Er mochte die Großstadt, aber dort leben … das muss man wollen. Und er wollte das nicht, seine Frau war da zum Glück aber auch ganz offen. Sie bekam ein Jobangebot in Salzwedel, in der Stadt in Deutschland, die wohl am weitesten entfernt von allen Autobahnen ist. Da die Corona-Pandemie gerade in vollem Gange war, hatte Andreas die Möglichkeit, mit ihr zu gehen und aus dem Homeoffice zu arbeiten.
Seine Frau hatte die europäischen Städte aus der Ferne ein wenig idealisiert und wurde in Berlin und Köln bitter enttäuscht. Salzwedel in Sachsen-Anhalt entsprach, wenn auch sehr klein, schon eher dem Idealbild: eine hübsche, kleine Hansestadt mit Fachwerkhäusern, in der es alles gab, was man brauchte. Die beiden merkten schnell, dass das genau das war, was sie wollten. Nur eine Sache stimmte nicht: Seine Frau machte Andreas darauf aufmerksam, dass er in seinem Job nicht glücklich wirkte. Und sie hatte recht. Aber Andreas war bis dahin nie der Typ gewesen, der einfach mal alle Zelte abreißt und woanders hingeht. Seiner Frau fiel das leicht und Andreas merkte, dass es mit ihr zusammen vielleicht doch funktionieren würde. Er schaute nach freien Stellen an Hochschulen, weil er gerne mit Menschen arbeiten und ihnen etwas beibringen wollte, und fand eine in Passau – und eine in Meschede.
Als die Zusage für Meschede kam, machten die beiden erst einmal das, was jeder wahrscheinlich tun würde: Erstmal schauen, wo Meschede überhaupt liegt. Klar, dass es irgendwo in Nordrhein-Westfalen ist, das war Andreas klar, aber ansonsten wusste er nicht viel darüber. Sie buchten eine Stadtführung und fuhren los Richtung Sauerland. Kaum aus dem Auto gestiegen, mussten sie sich erst einmal orientieren, wurden aber direkt freundlich angesprochen, ob sie Hilfe bräuchten. Andreas und seine Frau fühlten sich direkt wohl und willkommen.
Bei der Stadtführung stellten sie schnell fest, dass es eigentlich eine für Einheimische war, aber der Stadtführer nahm sich Zeit, auch den Neuankömmlingen einige Dinge zu zeigen und zu erklären. Danach schlenderten sie noch ein wenig durch Meschede, gingen chinesisch essen, wodurch sie gleich die ersten Kontakte zu den chinesischen Bewohnern des Sauerlandes bekamen, und machten anschließend noch einen langen Spaziergang um den Hennesee.
Der erste Eindruck stimmte, der Entschluss stand fest und Andreas‘ Frau kündigte ihren Job in Salzwedel. Auf ihre Initiativbewerbungen bekam sie schnell eine Antwort aus der Tanzetage. Der Umzug konnte also mit einem ganz sicheren Gefühl stattfinden. Eine Wohnung war ebenfalls zügig gefunden und die beiden konnten von nun an zu Fuß zur Arbeit gehen.
Andreas merkte schnell: Die Sauerländer sind liebenswerte Sturköpfe. Hat man das einmal verstanden, dann kommt man gut mit ihnen zurecht. Und so hatten sie wenig Probleme, neue Kontakte zu knüpfen: über die Tanzetage, über die chinesisch-stämmigen Sauerländer und auch über Andreas‘ Job in der Fachhochschule.
Vor allem die Hilfsbereitschaft der Sauerländer hat ihn nachhaltig beeindruckt. Beim ersten Einzug wurde ihnen direkt vom bis dahin noch unbekannten Nachbarn Hilfe beim Schleppen angeboten und sogar über ebay Kleinanzeigen, wo man sonst manchmal auf kuriose Menschen trifft, wurde ihnen eine riesige Hilfsbereitschaft entgegengebracht.
Für Andreas fühlte es sich an wie damals in dem Ort, in dem er aufgewachsen war. Meschede ist zwar deutlich größer, fühlt sich aber an wie ein großes Dorf. Und das inmitten schönster Natur. Eine der ersten Dinge, die Andreas und seine Frau gemacht haben, war, sich ein Schlauchboot zu kaufen, um damit auf dem Hennesee paddeln zu können. Wenn sie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter – eine echte Sauerländerin – am See sind, dann gibt es für die Kleine nichts Schöneres, als mit den Füßen durchs Wasser zu stapfen, Steine zu sortieren oder kleine Tiere zu beobachten. Wenn sie draußen sein kann, dann ist sie das glücklichste Kind der Welt.
Andreas erinnert sich, wie er als Kind immer zum Metzger geschickt wurde und eine Scheibe Wurst bekam. Das würde er sich in einer größeren Stadt aus Elternperspektive nicht trauen, in Meschede ist er sich aber sicher, dass das noch möglich ist. Die Menschen passen hier aufeinander auf.
Ob Andreas es sich vorstellen kann, dass das Sauerland Heimat für ihn und seine Familie werden kann? Man weiß nie, was das Leben für Pläne für einen bereithält, aber vorstellbar ist das. Also: ja!