Wenn man sich für einen Studiengang entscheidet, der etwas ausgefallener ist, führt oft kein Weg daran vorbei, das Sauerland zu verlassen. So ging es auch Anne. Aufgewachsen in Meschede in einer fünfköpfigen Familie führte es sie nach dem Abi nach Osnabrück. Europäische Studien sollten es sein, denn Politikwissenschaften und Europa hatten ihr Interesse geweckt. Und auch wenn Osnabrück nicht Berlin oder München ist, im Vergleich zu Meschede fühlt es sich dann doch an wie ein Umzug in die große Stadt. Am Anfang ist Anne deswegen auch noch jedes Wochenende nach Hause gefahren, bis sie so im Osnabrücker Studentenleben angekommen war, dass die Besuche weniger wurden. Zu großen Festen war sie aber immer wieder da und das vorweihnachtliche Treffen mit Freunden, die im Dezember alle zurück in die Heimat kamen, wurde zur Tradition.
Bis sie endgültig ins Sauerland zurückkehrte, sollte es aber noch viele Jahre dauern. Erstmal ging es nach Frankfurt, um noch etwas ganz anderes zu machen: eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation mit Fremdsprachenkorrespondenz Englisch. Ihren jetzigen Mann –ebenfalls Sauerländer – hatte sie vorher schon kennengelernt und der lebte zu dem Zeitpunkt bereits in Frankfurt. Als sie die Möglichkeit bekam, eine Stelle im Ausbildungsunternehmen anzutreten, allerdings am Standort Düsseldorf, sagte sie zu und zog mit Sack und Freund an den Rhein. Das war 2012. Nach zwei Jahren bei der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft, wechselte sie in ein Immobilienunternehmen und eine andere Prüfungsgesellschaft, bis 2019 der nächste Umzug anstand. Anne und ihr Mann wollten ein Haus bauen, in Düsseldorf undenkbar, im Sauerland möglich. Und so ging es zurück.
Unterschwellig war es den beiden immer irgendwie klar gewesen, dass es irgendwann zurückgehen würde – und zum Glück waren sie sich darüber auch einig. Als Anne das letzte Mal die Tür ihrer Düsseldorfer Wohnung abschloss, fiel ihr das trotzdem nicht leicht. Nach so langer Zeit an einem Ort, wird eben auch der ein klein wenig zur Heimat. Die vielfältigen Möglichkeiten, die in Düsseldorf jederzeit offenstanden, würde es in Sundern nun nicht mehr geben – dafür aber eben andere Vorteile.
Trotzdem musste Anne das Sauerland erstmal neu kennenlernen. Schließlich war sie viele Jahre nur als Gast ins Sauerland gekommen. Die Wahrnehmung ist da eine andere. Und so musste sie erst einmal in Ruhe schauen, was sich in den Jahren verändert hatte und was noch genauso wie früher geblieben war. Und manches nimmt man ja auch einfach anders wahr, wenn man als Erwachsene wiederkommt. Etwas das ihr direkt auffiel, was sich nicht verändert hatte: Das gesellige Leben findet eher zuhause statt. Trotzdem gibt es auch im Sauerland immer mehr Cafés und Restaurants mit modernen Ideen, für die Anne dann auch gerne mal ins Auto steigt und eine halbe Stunde fährt. Generell sieht sie, dass das Angebot für jüngere Menschen größer geworden ist und das ist auch gut so.
Kurz nach dem Umzug wurde ihre Tochter geboren, zwei Jahre später ihr Sohn. Die beiden haben ihr noch einmal mehr gezeigt, dass der Umzug ins Sauerland der richtige Weg war. Anne kann sich nicht vorstellen, mit den Kindern in der Großstadt zu wohnen. In Sundern macht sie einfach die Tür auf und geht raus, ohne erst einmal alles unter den Arm packen und zum nächsten Park laufen zu müssen. Um zum Sorpesee zu kommen, schwingt sie sich einfach aufs Rad. Und die Großeltern in der Nähe zu haben, ist natürlich ein weiterer riesiger Vorteil.
Trotzdem ist Anne irgendwann etwas aufgefallen, seitdem die Kinder da sind: Dass sie ganz viele Dinge erledigt, die automatisch passieren, die aber in der Menge einiges von ihr abverlangen. Mental Load – etwas, von dem vor allem Eltern und ganz besonders Mütter nur zu gut wissen, wie sich das anfühlt. Auch wenn Annes Mann ihr immer zur Seite steht, am Ende blieb viel dieser organisatorischen Arbeit rund um die Kinder doch bei ihr. Als sie sich genauer mit dem Thema beschäftigte, stellte sie fest, dass es auf der einen Seite ein individuelles Thema ist, auf der andern aber auch ein massives strukturelles und gesellschaftliches Problem. Es geht um Rollenerwartungen, um Dinge, die man ja schon immer so gemacht hat – etwas, was auch vielen Frauen im Sauerland nicht fremd ist. Vor allem, seitdem es üblich ist, dass auch Frauen schnell wieder in den Beruf einsteigen, ist das Thema rund um die Care-Arbeit noch wichtiger geworden. Kinder großzuziehen und sich um ältere Menschen zu kümmern, ist enorm wichtig für unsere Gesellschaft und doch wird sie so oft nicht so wahrgenommen.
Anne beschloss die Probleme anzugehen. Sie ließ sich zum systemischen Coach ausbilden, um ein Fundament zu haben. Heute bietet sie als „Rollen Rebell“ Coachings an: Sie möchte Frauen – aber auch Männer oder Paare – dabei unterstützen, die Rollenbilder zu hinterfragen und mit ihnen am Thema Mental Load arbeiten. Darüber hinaus möchte sie auch Workshops anbieten, um auf das strukturelle Problem hinzuweisen und zu sensibilisieren – auch in Unternehmen. Anne weiß, dass das ein langer Prozess ist. Niemand kann sagen: „Wir schmeißen alle Glaubenssätze über Bord und machen ab heute 50:50.“ Der Teamwork-Gedanke ist ganz wichtig und dass man sich an veränderte Situationen anpassen kann. Gerade im Sauerland fällt ihr auf, dass viele noch in den traditionellen Rollenbildern feststecken und es in der Großstadt oft bereits anders aussieht. Vielleicht liegt es auch daran, dass man im Sauerland nicht so anonym ist, dass jeder jeden kennt und es schwerer fällt, „aus der Reihe zu tanzen“. Anne jedenfalls ist fest entschlossen, das zu ändern – im Notfall eben mit einer Rollen-Rebellion.