Berlin, das e gegen ein o austauschen und die Buchstaben ein wenig mischen, schon heißt es Brilon. Bis auf die gemeinsamen Buchstaben haben diese beiden Städte aber nicht viel gemeinsam. Und das ist auch gut so – zumindest teilweise. Das weiß Sebastian nur zu gut. Groß geworden im 385- Seelendorf Meschede-Heinrichstal, ging es für ihn nach Abitur und Ausbildung erstmal fort. Allerdings nicht besonders weit. Dortmund war die Uni der Wahl, ein Katzensprung also. Dass Sebastian einmal raus wollte, das war aber immer klar. Gerade, wenn man im Bereich Design arbeiten möchte, blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Sauerland den Rücken zu kehren. Außerdem war er Anfang 20, und wollte seine Sturm-und-Drang-Jahre genießen. Am Ende sollten 15 Jahre vergehen, bis er feststellte, dass es Zuhause doch auch ganz schön ist.
Für die Arbeit zog es ihn nach dem Studium schließlich in die Hauptstadt. Dort lernte er auch Pia kennen. Die wuchs in Ratingen nur wenige Bahn-Minuten von Düsseldorf entfernt zwischen Stadt und Pferdeweiden auf. Beide also eher ländlich geprägt, lebten nun im schnelllebigen Berlin. Ab 2016 waren sie zu dritt, 2018 zu viert. Und dann kam Corona. Der Kindergarten geschlossen, die Spielplätze gesperrt. Die große Straße vor der Haustür mit der Bahnhaltestelle, und sechs Buslinien und die Einflugschneise Tegel waren plötzlich sehr präsent. Überall Motorenlärm und -gestank. All das, was zuvor im Trubel eben so hingenommen wurde, wurde jetzt, wo man dazu gezwungen war, zuhause zu bleiben, ohrenbetäubend. Ein Gefühl der Beklemmung kam auf. Kein Wunder: Der Balkon war so groß wie ein handelsübliches Badehandtuch und in den angrenzenden Parks und Grünanlagen kannten sie bald jede Ecke. Irgendwann begann Sebastian mit den Kindern ganz früh morgens raus aus Berlin zu fahren, raus in die Natur. Ein immenser logistischer und zeitlicher Aufwand, vor allem, wenn man zum Mittagessen wieder zuhause sein wollte.
Die Ahnung, dass Berlin langsam zu laut, zu eng und zu voll wurde, wurde nun zur Gewissheit. Kurzerhand bewarb Sebastian sich auf eine Stelle im Sauerland – und bekam sie direkt. Nur fünf Tage dauerte es von der Bewerbung bis zur Vertragsunterschrift. Das war Ende Februar, Anfang Juli sollte es losgehen. Nun hieß es für Sebastian und Pia: Ihr Berliner Leben ins Sauerland bringen, genauer nach Brilon. Eine hübsche, kleine Stadt umgeben von viel Natur. Ein echtes Kontrastprogramm zu Berlin – und ein Neuanfang in einer Umgebung, an die man sich erst einmal wieder gewöhnen muss.
Für das Knüpfen neuer Kontakte sind die Kinder natürlich eine große Hilfe und will man sie dann doch mal abgeben, ist jetzt zum Glück Sebastians Familie in der Nähe. Die wohnt nämlich in Meschede. Endlich mal wieder Zeit zu zweit genießen, das tut nicht nur Sebastian und Pia gut. Auch die Kinder haben nun die Möglichkeit, im weiteren Kreis der Familie und in deutlich behüteterer Umgebung aufzuwachsen. Pia hatte sich immer gewünscht, dass ihre Kinder im Wald und am Bach spielen können – so wie sie und Sebastian das auch getan hatten.
Aber verwöhnt von der Großstadt fallen natürlich doch einige Dinge auf, bei denen es auf dem Land deutlich Nachholbedarf gibt. Wenn es in der Mittagspause mal etwas anderes als ein belegtes Brötchen vom Bäcker sein soll, sieht es schlecht aus. Wenn dann auch noch kein Bargeld im Portemonnaie ist, wird es sogar mit dem belegten Brötchen nichts. Und da die nächste passende Bankfiliale eine halbe Stunde entfernt ist und die öffentlichen Verkehrsmittel – nett ausgedrückt – sehr sporadisch fahren, muss man eben auf den Feierabend warten. Das ist auch dann ein Problem, wenn das Auto mal in der Werkstatt ist und die Kinder mit Fahrrad und Anhänger in den Kindergarten gebracht werden müssen – das geht ordentlich in die Beine, wie Sebastian schon schmerzlich erfahren musste.
Dass man in Brilon noch Glück hat, dass dort ein Bahnhof ist, wissen sie beide. „Mal eben“ nach Meschede zur Familie oder zum Shoppen zu fahren, ist trotzdem kaum eine Option. Da gehört eine Menge Zeit und Geduld zu – und die haben vor allem die Kinder oft nicht. Der einzige Trost: Der Ausbau der Autobahn. In voraussichtlich neun (!) Jahren wird sie dann auch mal in Brilon angekommen sein …
Natürlich wussten die beiden, worauf sie sich einlassen, wenn sie Berlin verlassen. Und sie sind auch überzeugt davon, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Relativ pudelwohl fühlen sie sich, sagen sie. Denn wenn Pia und Sebastian jetzt ihre Balkontür aufmachen, hören sie keinen Straßenlärm, keine Flugzeuge und keine grölenden Menschen. Nein, wenn sie ihre Balkontür aufmachen hören sie NICHTS. Absolute Ruhe – außer ein bisschen Vogelgezwitscher.