Glaube, Sitte, Heimat?

Dass im Sauerland die Uhren manchmal noch etwas langsamer ticken und an Strukturen lange gerüttelt werden muss, bis sich etwas ändert, das habe ich schon in vielen Gesprächen mit Rückkehrerinnen und Rückkehrer und Neubürgerinnen und Neubürger herausgehört – und kenne das auch aus eigener Erfahrung. Abschrecken davon, ins Sauerland zurückzugehen, sollte es trotzdem nicht. Im Gegenteil, man sollte sich die Vorteile, die die Heimat und das Leben auf dem Land bieten, nutzen und versuchen, dass was einen stört, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu ändern.

So ging es auch Anne. Die gebürtige Meschederin wuchs in einem damaligen Neubaugebiet am Rande der Stadt auf. Nicht richtig dörflich, aber auch nicht städtisch – Meschede eben. Es war eine behütete Kindheit, mit viel im Freien spielen, durch die Wälder streifen und draußen bleiben, bis die Straßenlaternen angehen. Ihre Eltern hatten sehr viel Vertrauen in sie und machten sich wenig Sorgen, dass sie verloren gehen könnte. Es war ein traumhaftes Aufwachsen, wie aus dem Bilderbuch und wie es so viele erzählen, die im Sauerland aufgewachsen sind. Doch dann kam die Pubertät und damit wurden auch die Grenzen des ländlichen Lebens deutlich. Und dabei ging es nicht nur um die Frage: Wo ist die nächste Disco und wie komme ich dahin? Es ging vielmehr auch darum, welcher Lebensentwurf im Sauerland vorgelebt wird: Vater, Mutter, Kind, das Eigenheim, die zwei Autos vor der Tür und die Mitgliedschaft im Schützenverein. Sobald das hinterfragt wurde – und das gehört ja in der Pubertät dazu – konnte es schon einmal etwas ungemütlicher werden. Viele unterschiedliche Rollenvorbilder für einen anderen Lebensstil gab es einfach nicht. Und wenn man sich dann nicht reinpassend fühlte, dann stand es völlig außer Frage, dass man nach der Schule wegging – und in der Regel auch nicht wiederkam. Und so ging Anne weg und dachte überhaupt gar nicht darüber nach, irgendwann einmal zurückzukehren.

Es verschlug sie für das Studium nach Utrecht und Bochum. Ein neuer Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen und Möglichkeiten begann. In dieser Zeit lernte sie auch Simon kennen. Simon wuchs in Beckum auf, nicht weit weg vom Sauerland und auch eher ländlich. Eine Betonwüste wie Bochum war also auch für ihn nicht das, was er von Klein auf kannte.

Während des Studiums und auch während der ersten Schritte in der Berufswelt kam es Anne nie in den Sinn, nach Meschede zurückzukehren. Die spannenden Jobs gab es überall – nur eben nicht im Sauerland. An digitales Arbeiten aus dem Home Office war zu dieser Zeit noch nicht zu denken. An welchem Ort man lebte, entschied sich also über den Job und nicht darüber, wo man wirklich gerne leben wollte.

Als 2014 ein vierbeiniger Mitbewohner bei Anne und Simon einzog, kam das erste Mal der konkrete Gedanke auf, aus Bochum wegzuziehen – zumindest etwas weiter raus, dorthin, wo es grüner ist und man nicht auf Betonwände starrt, wenn man aus dem Fenster schaut. Doch der Wohnungsmarkt ist klein und gerade Wohnungen und Häuser im Grünen aber in Stadtnähe unbezahlbar. Als dann jedoch ihre Tochter unterwegs war, wurde der Wunsch dringender. Die Überlegung war, nach Fröndenberg oder Unna zu ziehen. Anne arbeitete zu der Zeit nämlich bei einem Arbeitgeber in Dortmund – wo sie auch heute noch angestellt ist, Simon war zu dem Zeitpunkt selbstständig und konnte ortsunabhängig arbeiten. Aber so richtig einleuchten, wieso man nun nach Fröndenberg ziehen sollte, wollte es den beiden nicht. Und zum Glück klappte es auch nicht. Stattdessen spielte ihnen der Zufall in die Hände. Sie hatten nicht darüber nachgedacht, nach Meschede zurückzugehen, weil die Pendelei von dort nach Dortmund für Anne einfach zu viel gewesen wäre. Aber durch Mutterschutz und Elternzeit spielte das in dem Moment keine Rolle – und wer wusste schon, was danach kommen würde? Als eine Bekannte sagte, dass von einem Bekannten (wie das eben so funktioniert im Sauerland) die Wohnung frei wurde, schauten Anne und Simon sie an, befanden sie für gut und so ging es für sie ins Sauerland, in Annes alte Heimat.

Und genau das, machte das Ankommen in vielen Dingen recht einfach. Die Tochter der beiden wird inzwischen bald sieben Jahre alt und die Großeltern wohnen nur zwei Häuser weiter. Und auch die Ruhe und die Natur wissen nun beide viel mehr zu schätzen. Sie sind gerne draußen, gehen mit dem Hund in den Wald oder an den See. Die Wege sind kurz, viel kann mit dem Fahrrad erledigt werden. Simon und Anne sind in einer neuen Lebensphase angekommen, in der man andere Dinge braucht, als noch vor ein paar Jahren, als sie noch das Ruhrgebiet unsicher machten. Dass sich der Fokus da irgendwann verschiebt, ist wohl ganz normal. Für Anne ist es die Vertrautheit ihrer Heimat, den Kontakt zu Menschen wieder aufleben zu lassen, der in den Jahren als sie und vielleicht auch die anderen an anderen Orten gelebt haben, verloren gegangen war. Wenn irgendetwas gebraucht wird, weiß Anne immer, wen sie fragen kann, alles lässt sich schneller und unkomplizierter auf einer persönlichen Ebene regeln, als das in der großen Stadt der Fall gewesen wäre.

Glaube, Sitte, Heimat steht jedoch auch nach so vielen Jahren über allem. Und da kommt Anne immer noch an ihre Grenzen. Sie und Simon versuchen das, wo es nur geht, aufzubrechen und wollen ihrer Tochter deutlich machen, dass es so viele andere Arten gibt, sein Leben zu gestalten. Da hilft natürlich auch, dass wir nun in einer anderen Zeit leben. Früher hatte man nur die Vorbilder, denen man unmittelbar auf der Straße begegnet ist. Mit dem Internet sieht das nun ganz anders aus.

Simon und Anne wissen, dass sie Glück gehabt haben. Die Wohnungssuche ist inzwischen auch im Sauerland nicht mehr so einfach. Und wahrscheinlich ist das auch ein Grund, wieso es manchen schwerfällt, zurückzugehen. Denn zu allererst schaut man doch einmal, wie man an seinem Wunschort leben könnte, ob man dort wieder Kompromisse eingehen müsste und dann überlegt man es sich vielleicht doch noch einmal.

Die beiden würden sich auch wünschen, dass Rückkehrerinnen und Rückkehrer und Neubürgerinnen und Neubürger leichter integriert werden – und das ohne diesen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Gerade Simon als „Buiterling“ brauchte viel Durchhaltevermögen und musste viel Eigeninitiative zeigen, um die eingeschworenen Cliquen der „alteingesessenen“ Sauerländerinnen und Sauerländer dazu zu bewegen, mehr als nur ein Hallo zu brummen. Willkommenskultur ist einfach nicht das größte Talent der Menschen im Sauerland – auch wenn es natürlich Initiativen gibt, die das ändern wollen. Aber es braucht mehr Plattformen und Anlässe. Auch solche, wo eben alle aufeinandertreffen. Anlässe, bei denen Menschen mit den gleichen Interessen aufeinanderstoßen, ganz egal, ob sie das Sauerland nie verlassen haben oder gerade nach zwanzig Jahren zurückgekommen sind. Anne stellt sich das ein wenig vor wie die Ersti-Woche an der Uni: Man trifft sich und macht gemeinsam coole Aktivitäten. Und zusammen eine gute Zeit haben, das können die Sauerländerinnen und Sauerländer ja nun wirklich ziemlich gut!