Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass jemand das Sauerländer Graubrot vermisst? Spürst du in diesem Moment vielleicht auch, wie sehr es dir fehlt, und überlegst deswegen wieder zurück in die Heimat zu gehen? Oder was ist es bei dir, diese Kleinigkeit, die dir direkt in den Sinn kommt und das Herz ein wenig schwer werden lässt, wenn du an die Heimat denkst?
Simon auf jeden Fall vermisst das Graubrot sehr. Das Graubrot und den Grünkohl. Das hat er nämlich vor 16 Jahren gegen braunen Käse (! norw.: brunost) getauscht. Ganz stimmt das so natürlich nicht, denn den mag er auch nach so vielen Jahre noch nicht. Für seine inzwischen nicht mehr ganz neuen Landsleute hingegen ist es wahrscheinlich das, was für ihn eben Graubrot und Grünkohl sind: Ein Stück Heimat auf der Zunge.
Als er noch im Sauerland gelebt hat, wäre seine Antwort wahrscheinlich nicht „Graubrot“ gewesen, wenn er gefragt worden wäre, was er an seiner Heimat besonders zu schätzen weiß. Nun, mit vielen Jahren und Kilometern Abstand, sieht er das Sauerland mit ganz anderen Augen.
Für ihn war es eine ganz bewusste Entscheidung, wegzugehen. Wie so viele empfand er das Leben auf dem Land als Jugendlicher als wenig reizvoll. Er war nie in einem Verein und fand es alles ein wenig spießig. Die weite Welt rief. Er wurde Koch, reiste viel herum und landete schließlich in Norwegen und blieb auch dort – der Liebe wegen.
Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt er in Drammen, etwa 40 Kilometer südlich von Oslo. Vergleichen lässt sich die Stadt, die in Norwegen die sechstgrößte ist, etwa mit Arnsberg. Also nicht riesig groß, aber definitiv kein Dorf mehr. Simon kommt gebürtig aus Brilon, lebte dann in Velmede und Wehrstapel. Seitdem er weg ist, hat sich sein Verhältnis zum Sauerland geändert. Hätte er keine Familie in Norwegen, könnte er sich richtig gut vorstellen, wieder zurück ins Sauerland zu ziehen. Es ist das ruhigere Leben, das ihn vorher vertrieben hat, das ihn nun wieder ganz verlockend anlächelt.
Ich frage ihn, wieso er es seiner Familie in Norwegen nicht schmackhaft machen kann, zurück ins Sauerland zu kommen. Da muss Simon lachen und erst einmal nachdenken. Seine Frau kommt auch vom Land, erzählt er mir. Land in Norwegen ist jedoch etwas ganz anderes. Extrem abgeschieden, bis zur nächsten Tankstelle fährt man gerne schon einmal eine halbe Stunde. Im Sauerland hängt ja doch irgendwie alles zusammen und man hat eigentlich alles, was man braucht, in der Nähe. Trotzdem ist es eben immer noch Land. Und auch wenn sowohl Simons Frau als auch ihre beiden Kinder das Sauerland sehr mögen – trotz eines kleinen Kulturschocks auf dem Velmeder Schützenfest –, ist die Familie in Norwegen einfach glücklich.
Aber wenn er sich vorstellt, wie es wäre zurückzukommen, dann stellt er es sich nicht allzu schwer vor. Als Koch würde er vermutlich recht einfach Arbeit finden. Und nachdem er es geschafft hat, sich in Norwegen einzuleben und dort akzeptiert zu werden, glaubt er auch, dass, obwohl er so viele Jahre weg war, die Sauerländer ihn und auch seine kleine Familie mit offenen Armen aufnehmen würden. Denn noch eines ist ihm aus der Ferne aufgefallen: Wenn man den Sauerländern nachsagt, dass sie stur seien und nicht viel sagten, dann sind die Norweger Sauerland hoch zehn. Für eine Sauerländerin, die nun seit einiger Zeit die immer zu einer Plauderei bereiten Rheinländer erlebt, kaum vorstellbar. Aber Simon besteht darauf, dass dort gilt: Man müsse mit einem Norweger ein Fass (sic!) Salz essen, damit er dein Freund wird.
Und was vermisst er noch? Den Sauerländer Dialekt. Tatsächlich ist ihm erst aus der Ferne klargeworden, dass es den überhaupt gibt. Aber wenn man ihn nicht mehr jeden Tag hört, fällt er doch auf. Und dann fühlt es sich gleich nach Heimat an, wenn man ihn hört. Und auch die Sauerländer Wälder fehlen ihm. Seltsam, denkt man, schließlich gibt es in Norwegen ziemlich viel Wald – und ziemlich schönen. Tiefe, urige Kiefernwälder und zauberhafte, kleine Birkenhaine. Ganze 605 km² von 121.000 km² norwegischer Waldfläche wurden noch nie gerodet und genutzt, ein richtiger Urwald. Das sieht im Sauerland ja ziemlich anders aus. Fichtenwälder, wohin das Auge reicht. Aber genau das ist es, was Simon so an seine Heimat erinnert: Der Blick von Föckinghausen hinunter auf schier endlosen Nadelwald. Sogar der Geruch ist ein anderer.
Ich merke wieder: Manchmal braucht es einfach Abstand, mal sind es nur 150 Kilometer von Köln, mal sind es deutlich über 1000 Kilometer von Norwegen, um sich von seinen alten Ansichten über das Sauerland zu verabschieden.
Es bestätigt mir einmal mehr, dass es wahrscheinlich jedem einmal guttut, seine Heimat hinter sich zu lassen – für eine kürzere oder längere Zeit, vielleicht ist es am Ende auch für immer. Das weiß man nicht so genau. Aber wie heißt es so schön: Versuch macht klug. Und wenn man merkt, dass sich der Blick auf die Heimat verändert, wenn man merkt, dass es an der Zeit ist, zurückzugehen, wenn die Umstände passen, dann sollte man genau das tun. Nicht mit verklärtem Blick, sondern natürlich auch die nicht so schönen Seiten abwägen, die es überall gibt. Am Ende ist es aber doch einfach das Gefühl, auf das man hören sollte, wenn man entscheidet, wo und wie man sein Leben leben möchte, wo man sich wohl und geborgen fühlt. Und dazu gehört manchmal eben auch ein vermisstes Graubrot.
Autorin: Sonja Nürnberger